Jo Millar

Jo Millar (1939–2012) aus dem Kanton Genf war eine der Akteurinnen, die Kinder aus in Indien in die Schweiz vermittelte.[FN1 Vgl. weitere Akteurinnen im Beitrag von Sabine Bitter: Die Adoptionsvermittlung von Kindern aus Indien in die Schweiz, in: Andrea Abraham, Sabine Bitter, Rita Kesselring (Hg.): Mutter unbekannt. Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau,1973–2002. Zürich 2024, S. 149–182.] Sie hatte 1978 mit ihrem Ehemann über Terre des Hommes in Lausanne zu ihren vier eigenen Kindern ein erstes indisches Kind aufgenommen, auf die fünf weitere aus diesem Land folgten, wie es auf der Website ihres Hilfswerks heisst.[FN2 https://www.miblou.org/about.html sowie https://www.miblou.org/Resources/Info2013.pdf, Abruf 2.5.2024.] Ein Jahr später stieg sie mit der Gründung des Divali Adoption Service selbst in die Adoptionsvermittlung aus Indien ein.[FN3 BAR, E4300C-01#2021/126#1117*, Einladungsschreiben von Jo Millar für Samstag, 18.2.1989, zum zehnjährigen Jubiläum des Divali Adoption Service und zur Ankunft des 400. Kinds aus Indien im Flughafen Genf-Cointrin.] Dabei arbeitete sie zum einen mit der Ingenbohler Schwester Waldtraut und zum anderen mit den Missionarinnen der Nächstenliebe von Mutter Teresa in Neu-Delhi zusammen. Millar war ab 1979 jahrelang in der Adoptionsvermittlung tätig, ohne über die seit 1973 gesetzlich vorgeschriebene Zulassung zu verfügen. Erst im Oktober 1983 erhielt sie vom sozialdemokratischen Genfer Staatsrat André Chavanne, dem Vorsteher des Genfer Jugendamts, die gewünschte Bewilligung zur Adoptionsvermittlung aus Indien nachgereicht – für ein Jahr, mit der Möglichkeit, diese erneuern zu lassen.[FN4 BAR, E4300C-01#1998/299#1349*, Schreiben des Genfer Staatsrats André Chavanne an Jo Millar, 11.10.1983. André Chavanne war von 1961–1985 Vorsteher des Bildungsdepartements. Vgl.:https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/006246/2003-06-30/, Zugriff, 2.5.2024. Dazu gehörte auch das Jugendamt, das für die Aufsicht über die Adoptionsvermittlungsstellen verantwortlich war.]

Die Erteilung dieser Bewilligung war jedoch problematisch, denn der Schweizer Botschafter in Neu-Delhi hatte im November 1983 ein kritisches Schreiben von Subal Chandra Das, Generalsekretär einer Ortspartei der rechtskonservativen hindu-nationalistischen Janata Partei, auf dem Tisch. Der Mann beklagte sich über Jo Millar: Sie betreibe mit ihrer Adoptionsvermittlung ein Geschäft, habe keine Bewilligung der westbengalischen Behörden für ihre Tätigkeit und verstosse gegen weitere Vorschriften. Sie nehme westbengalische Kinder an und gebe unter Vorspiegelungen falscher Tatsachen an, dass sie aus Delhi stammten, damit das Verfahren beim dortigen Gericht abgewickelt werden könne. Dieses Verhalten sei für die westbengalische Bevölkerung sehr beleidigend.[FN5 BAR, E2200.64#1998/111#22*, Schreiben von Subal Chandra Das, Generalsekretär der Mal Block Janata Partei in Westbengalen, an Schweiz. Botschaft in Neu-Delhi, 29.10.1983.] In einer Notiz kommentierte ein Botschaftsmitarbeiter dieses Schreiben: «Herr Botschafter, ich glaube hier wäre es am Platze, dass eine Kopie dieses Schreibens in die Schweiz geschickt wird. Das ganze Geschäft hat also nun einen beträchtlichen Umfang an Irregularitäten angenommen.»[FN6 BAR, E2200.64#1998/111#22*, interne Notiz, Bundesamt für Ausländerfragen, 7.11.1983.] Die Aktivität von Jo Millar, die mit Schwester Waldtraut zusammenarbeite, gefalle der Botschaft nicht, schrieb Botschafter Peter S. Erni im November 1983 nach Bern: «Vous savez aussi, que l’activité de Mme Millar, qui travaille en étroite collaboration avec Soeur Waldtraut, n’est pas pour plaire à cette Ambassade.»[FN7 BAR, E4300C-01#1998/299#1349*, Schreiben des Schweizer Botschafters in Neu-Delhi, Peter S. Erni, an Bundesamt für Ausländerfragen, 16.11.1983.] Das Bundesamt für Ausländerfragen verwies auf die Genfer Behörden, die keinen Anlass zur Klage sehen würden.[FN8 BAR, E2200.64#1998/111#22*, Schreiben des Bundesamts für Ausländerfragen an Schweiz. Botschaft in Neu-Delhi, 28.11.1983.] Die Bundesbehörde erinnerte ihrerseits die Botschaft daran, vor der Ausstellung eines Visums zu prüfen, ob die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten würden gemäss dem Kreisschreiben vom 13. Juni 1983.[FN9 BAR, E2200.64#1998/111#22*, Schreiben des Bundesamts für Ausländerfragen an Schweiz. Botschaft in Neu-Delhi, 28.11.1983.] Darin waren die kantonalen Fremdenpolizeien angewiesen worden, dass das Bundesamt für Ausländerfragen Einreisebewilligungen nur erteile, wenn das in Aussicht genommene Kind bereits geboren sei und seine Identität feststehe. Wie die Analyse der Dokumente von indischen Kindern, die in den Kantonen Zürich und Thurgau adoptiert wurden, jedoch zeigt, waren die Angaben zu ihrer Identität unzureichend belegt.[FN10 Sabine Bitter: Analyse von 24 Adoptionen von indischen Kindern in den Kantonen Zürich und Thurgau, in: Andrea Abraham, Sabine Bitter, Rita Kesselring: Mutter unbekannt. Adoptionen aus Indien in den Kantonen Zürich und Thurgau, 1973–2002, Zürich 2024, S. 214–217.] Auch der Vorsteher des Genfer Jugendamts, Staatsrat André Chavanne, reagierte beschwichtigend: Er versicherte der Mal Block Janata Party in Westbengalen, dass Jo Millar nur dann Kinder in die Schweiz vermittle, wenn auf indischer Seite aller rechtlichen Formalitäten erfüllt und alle Dokumente geprüft worden seien.[FN11 BAR, E4300C-01#1998/299#1349*,Schreiben von André Chavanne, Genfer Staatsrat und Vorsteher des Jugendamts des Kantons Genf, an Mal Block Janata Party in West Bengal, 28.11.1983.]

Die Bundesbehörde wandte sich an den Botschafter in Neu-Delhi, der von Schwester Waldtraut Erkundigungen einholen liess: «Hingegen hat sich in der Zwischenzeit Sr. Waldtraut bei ihrer Kontaktperson bei der hiesigen Polizei erkundigen können, ob gegen Frau Millar etwas vorliege, was verneint wurde.»[FN12 BAR, E4300C-01#1998/299#1349*, Schreiben von Jean Cuendet, Schweizer Botschafter in New Delhi, an Bundesamt für Ausländerfragen, 4.3.1985.] Die Genfer Vermittlerin setzte ihre Tätigkeit fort. Gemäss Jahresbericht reiste sie 1988 sieben Mal nach Indien und brachte 38 Kinder zu Familien in der Schweiz.[FN13 BAR, E4300C-01#2021/126#1117*, Jahresbericht des Divali Adoption Service 1988.] In der Zwischenzeit hatte sie sich in Indien prominente Unterstützung organisiert. Die Sozialreformerin Tara Ali Baig (1916–1989), die den Indian Council for Child Welfare präsidierte und 1977 als erste asiatische Frau zur Präsidentin der International Union for Child Welfare in Genf gewählt wurde,[FN14  https://en.wikipedia.org/wiki/Tara_Ali_Baig,Abruf 2.5.2024.] warb in mehreren Zeitungsartikeln für die Adoptionsvermittlung von Jo Millar und schwärmte von einem «little India in Switzerland».[FN15 BAR, E2200.64#1998/111#22*, Zeitungsartikel, Tara Ali Baig: «India in Switzerland», in: The Hindustan Times Sunday Magazine, 14.8.1988. Vgl. auch BAR, E2200.64#1998/111#22*, Zeitungsartikel von Tara Ali Baig, «Adoptionis a new life», in: SWAGAT, März 1989, S. 129.]

Zu Beginn der 1990er-Jahre gab Jo Millar die Adoptionsvermittlung auf und zog nach Südfrankreich, wie einer Adressänderung von 1994 zu entnehmen ist, die auch bei den Bundesbehörden landete: Besuch sei willkommen, heisst es darin. Doch man bitte darum, die neue Adresse, Telefon- und Faxnummer mit strengster Geheimhaltung zu behandeln.[FN15 BAR, E4300C-01#2019/266#749*, Anzeige der Adressänderung, 20.6.1994.]

Quellen / Literatur