Mangelhafte vormundschaftliche Vertretung

Die indischen Gerichte  sprachen keine Adoption aus. Eine solche konnte erst in der Schweiz und frühestens nach einem zweijährigen Pflegeverhältnis beantragt und vollzogen werden. Das heisst: Bis zur Adoption waren die Paare, die in der Schweiz ein indisches Kind aufnahmen, nicht im Besitz der «elterlichen Gewalt» (heute «elterliche Sorge»). Deshalb musste eine Person eingesetzt werden, welche die vormundschaftliche Vertretung bis zum Adoptionsentscheid übernahm.[FN1 Schweizerisches Zivilgesetzbuch 1907/1912, Art. 327 a.] Wie die Analyse der Pflegeverhältnisse in 24 Fällen in den Kantonen Zürich und Thurgau zeigt, blieben 20 von 24 Kindern für längere Zeit in einem rechtlich prekären Status, indem sie erst Monate nach der Ankunft eine:n Vormund:in erhielten. Bei einem Knaben wurde ein solche Person erst im letzten Moment und nur gerade für die gesetzlich vorgeschriebene vormundschaftliche Zustimmung zur Adoption eingesetzt.[FN2 StArZH V.K.c.15.:Serie 1988-1992.9980, Protokollheft der Vormundschaftsbehörde, Eintrag vom 22.5.1985.] Ein Mädchen hatte während des ganzen Pflegeverhältnisses überhaupt keine rechtliche Vertretung an seiner Seite. Im Adoptionsdossier wurde notiert: «Anscheinend waren alle Beteiligten der Meinung, dass eine Vormundschaft errichtet worden sei; dies war jedoch nicht der Fall.»[FN3 StArZH V.K.c.25.:4.1.402, Schreiben des Waisenrats der Vormundschaftsbehörde an Pflegeeltern, 31.8.1995.] Dies konnte schwerwiegende Folgen haben, wenn es um wichtige Entscheidungen wie zum Beispiel eine medizinische Behandlung ging. Hinzu kam, dass es bei bestimmten vormundschaftlichen Vertretungen zu Interessenkollisionen kommen konnte, etwa dann, wenn angehende Adoptivväter oder Mitarbeitende von Adoptionsvermittlungsstellen diese Funktion übernahmen. Die mangelhafte vormundschaftliche Aufsicht über die Pflegekinder wurde bereits in den 1980er-Jahren als «missliche Vertretungsnot» erkannt.[FN4 Robert Zuegg: Die Vermittlung ausländischer Adoptivkinder als Problem des präventiven Kindesschutzes, Zürich 1986, S. 78.]

Kritische Situationen, in denen der Einsatz und das Engagement eines Vormunds besonders wichtig gewesen wären, gab es auch bei indischen Kindern in den Kantonen Zürich und Thurgau. So wurde nach der Aufnahme von vier Kindern im Kanton Zürich 1997 der Verdacht laut, sie seien vor oder während der Reise in die Schweiz sexuell missbraucht worden. Die Kantonspolizei informierte die betreffende Vormundschaftsbehörde und die zuständigen Amtsvormünder über das eingeleitete Ermittlungsverfahren. Die Vormundschaftsbehörde wollte von den Amtsvormündern wissen, ob sie Hinweise auf sexuellen Missbrauch hätten.[FN5 STAW Amtsvormundschaft, zu Etat 10126, Schreiben der Vormundschaftsbehörde, Departement Soziales Winterthur, an Amtsvormund, 1.7.1997.] Diese gaben zu Protokoll, dass die vier Kinder aus dem Heim der Missionarinnen der Nächstenliebe in Bombay vermittelt worden seien. In zwei Fällen sei die Aufnahme der Kinder durch die Waadtländer Adoptionsvermittlerin Helga Ney organisiert worden.[FN6 STAW Amtsvormundschaft, zu Etat 10012, Schreiben von Amtsvormund an Vormundschaftsbehörde Winterthur, 3.7.1997.] Dass sich die Amtsvormünder für die weitere Aufklärung dieser Fälle engagiert hätten, geht aus den Akten nicht hervor. Was das polizeiliche Ermittlungsverfahren ergab, konnte trotz intensiver Recherchen im Staatsarchiv des Kantons Zürich nicht rekonstruiert werden.

Quellen / Literatur